NERDfall Nr. 31 – Teil 1: Schwäche und Kopfweh

Neuer NERDfall? Neuer NERDfall! Wir wünschen viel Freude und Erkenntnisgewinn bei der Diskussion, sind gespannt auf eure Perspektive. Diskutiert hier in den Kommentaren oder in unserer Telegram-Gruppe. Wir sehen uns dort oder zur ersten Zusatzinfo. 🤓

Ein regnerischer Dienstag Abend im November. Die Nachtschicht hat seit einer Stunde übernommen und tummelt sich im Aufenthaltsraum der Wache. Draußen ist es schon dunkel, man liegt gemeinsam auf dem Sofa herum und empört sich über die letzte Staffel “Lebensretter hautnah”, während der Azubi seine Überstunden in das PC-Terminal eingibt. Von außen prasselt der Regen gegen die Fensterscheiben, im Ofen blubbert ein “Schlecht & Teuer” Backfisch vor sich hin. Piep – piep – piep!

Der Einsatzort liegt in einem Wohngebiet mit Hanglage, die etwa 10-minütige Anfahrt dorthin bietet schöne Ausblicke auf die Lichter der Großstadt. Beide Fahrzeuge treffen zeitgleich ein, vor Ort wird kommentarlos das gesamte Material (Kreislauf- und Atmungsrucksack, EKG, Absaugpumpe, NEF-Zusatzrucksack) mitgenommen – man kennt sich. Das Team wird vom 30-jährigen Sohn der Familie in Empfang genommen und in den dritten Stock des Mehrfamilienhauses geführt. Ein Aufzug ist nicht vorhanden, die Treppen sind von großzügiger Breite.

An der Wohnungstür wartet eine ca. 70-jährige Frau, welche sich als die Schwester der Patientin vorstellt und das Team über eine maximal schmale, steile Wendeltreppe flink zu dieser führt. Die gesamte Wohnung wirkt sehr ordentlich, es imponieren mehrere hohe hölzerne Bücherregale. Beim Betreten des Schlafzimmers fällt direkt ein Geruch von Erbrochenem auf. Eine ebenfalls etwas ältere Frau (~165cm, ~60kg) liegt auf einem Doppelbett. Sie dreht den Kopf leicht und mit geschlossenen Augen in Richtung der fünf fremden Menschen, die das Zimmer betreten und sagt sehr leise “Hallo”. Die Atemfrequenz liegt bei 16/min. Die Hautfarbe der drei Familienangehörigen ist sehr dunkel.

Die Eigenanamnese ist erschwert, da die Patientin sehr leise und langsam spricht. Sie habe wohl seit zwei Stunden Druck hinter beiden Augen und Schmerzen im Bereich beider Schlüsselbeine. Vor einer halben Stunde habe sie einmalig erbrochen, ihr ist seit dem immer noch etwas übel. Die Schwester bringt die Beschwerden besorgt mit einer gestern stattgehabten traditionell-hawaiianischen Lomi Lomi Massage in Verbindung. Es bestünden wohl keine Vorerkrankungen, kein Konsum von Alkohol, Tabak oder anderen Drogen. Die Patientin gehe laut eigenen Angaben regelmäßig zu ihrem Hausarzt. Keine Allergien seien bekannt. Die letzte Mahlzeit sei vor zwei Stunden gewesen (Feta Salat).

Die Notärztin beginnt gemeinsam mit dem NFS-Azubi eine körperliche Untersuchung, während das restliche Team mit dem Verkabeln beginnt. Die Auskultation von Herz und Lunge bleibt unauffällig. Das Hautkolorit wird vom Team als leicht „käsig“ beschrieben, die Haut ist eher kühl und ein wenig schweißig. Die Pulse der Aa. radiales sind beidseits gut und mit einer Frequenz von ~60/min tastbar, der palpatorisch gemessene systolische Blutdruck am linken Oberarm beträgt 130mmHg. Am Monitor zeigen sich schmale QRS-Komplexe, denen zuverlässig eine P-Welle vorausgeht. Die angezeigte SpO2 beträgt 98%. Die Patientin erscheint verlangsamt und etwas kraftlos, ist dabei zu allen Qualitäten orientiert und folgt Aufforderungen zuverlässig. Die Skleren sind bei grober Inspektion unauffällig gefärbt, die Bulbi palpatorisch weich. Die Schlüsselbeine sind inspektorisch unauffällig und nicht druckdolent. PERRLA. Temperatur 37,4°C, kein Sturz.

In NERDfällen geschilderte Abläufe stellen keine Handlungsempfehlungen dar. Es handelt sich um realitätsnahe Fallschilderungen, die einzig zur Diskussion gedacht sind.


Wie gehst du weiter vor?


Zusatzinfo 1 (02.06.2023 / 12:20 Uhr):
So ganz sicher ist man sich im Team nicht, wie man den Zustand der Patientin einschätzen soll. Es wird damit fortgefahren, einen iv.-Zugang vorzubereiten und ein 12-Kanal EKG abzuleiten. Die Schwester der Patientin wirft ein, dass die Haut „irgendwie“ deutlich grauer sei, als sonst. Seit der Alarmierung sind 18 Minuten vergangen.

Anmerkung:
Die Wendeltreppe ist eng und führt durch eine Öffnung in der – ansonsten geschlossenen – Decke der Maisonette-Wohnung. Im neben dem Schlafzimmer gelegenen Zimmer gibt es ein großes, zur Straße ausgerichtetes Fenster.

Zusatzinfo 2 (03.06.2023 / 12:30):
Das EKG ändert die Teamdynamik sofort: man legt sich einstimmig auf STEMI bzw. OMI als Arbeitsdiagnose fest. Die Notärztin überbringt die Botschaft behutsam, die Patientin reagiert darauf adäquat und eher gefasst. Auch der Rest der Familie bleibt ruhig. Parallel wird schon rege diskutiert, ob man die Patientin die Wendeltreppe herunter gehen lassen kann. Andere Transportarten über die Treppe kommen für das Team nicht in Frage. Währenddessen beginnt der NEF-Fahrer mit der telefonischen Klinikanmeldung im Herzkatheterlabor einer der Schwerpunktversorger. Erst danach kann er sich der – mittlerweile beschlossenen – Nachforderung der Drehleiter widmen. 

Nach Etablierung des 18G iv.-Zugang (BZ = 8mmol/l = 144mg/dl) erhält die Patientin intravenös 300mg ASS, 5000 I.E. Heparin, 62,5mg Dimenhydrinat und 2mg Morphin. Zudem werden die Defi-Patches aufgeklebt, jedoch nicht mit dem Gerät konnektiert. Im EKG häufen sich bei persistierender Sinusbradykardie (~55/min) derweil ventrikuläre Extrasystolen (~1 VES pro 5 normale QRS-Komplexe). Die Rettungssanitäterin bringt das Tragetuch und begibt sich wieder zum RTW, um den Transfer vorzubereiten und die Drehleiter einzuweisen.

Anmerkung: Rekap.-Zeit an allen Extremitäten 3s. Blutdruck an beiden Armen gleich. Sprache nur leise und kraftlos; jedoch keine Dysarthrie/Aphasie. pDMS an allen Extremitäten intakt.

Wie denkst du über das Vorgehen des Teams? Wie machst du weiter?


Zusatzinfo 3 (04.Juni 2023 / 21:10):
Das Team bereitet auf Bitte der Notärztin 1 mg Atropin vor und lagert die Patientin auf dem Bett auf das Tragetuch um. Insgesamt wird sehr wenig kommuniziert, die einzelnen Handlungsschritte werden dennoch flüssig ausgeführt.
Der Alarm des EKG-Geräts schrillt auf! 

Hektisch werden die Kabel der EKG-Elektroden mit der Defi-Einheit konnektiert, etwa 25s nach Einsetzen der Rhythmusstörung wird erfolgreich defibrilliert. Danach zeigt sich erneut eine Sinusbradykardie (~60/min). Die Patientin wird nun auf den Boden verbracht, wo sie prompt erneut defibrilliert werden muss. Nach dem zweiten Schock ist Patientin deutlich agitiert und setzt sich auf. Das Team kann sie beruhigen, es werden 0,5mg Atropin verabreicht, woraufhin die Herzfrequenz auf ~70/min ansteigt.

Es geht in den Endspurt. Wie reagierst du? Was muss jetzt passieren?

Autor: Navid Azad

An der Notfallmedizin reizen mich ihre Vielseitigkeit, das pragmatische Arbeiten mit menschlicher Physiologie, die mentalen Aspekte des Arbeiten unter Drucks und die vielfältigen gesellschaftlichen Einblicke.

2 Kommentare zu „NERDfall Nr. 31 – Teil 1: Schwäche und Kopfweh“

  1. Uiuiui, Aortendissektion mit Verlegung der Subclavia und daraus resultierendem neurologischen Defizit weil zu wenig Blut im Hirn? Ischämiezeichen in II,III aVF als Typ 2 Myokardinfarkt auch aufgrund der Dissection? Stanford-Typ-A?

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