NERDfall Nr. 30 – Teil 1: Bauchschmerzen in fortgeschrittener Schwangerschaft – was nun?

Hmmm der Melder sagt Geburt aber ist es denn wirklich schon soweit?
Wir freuen uns wie immer auf eine erneute Falldiskussion mit euch!

Ein RTW-Team hat soeben entspannt und quatschend sein Fahrzeug in der Liegendkranken-Einfahrt einer Klinik aufbereitet, als der Rettungssanitäter beim Einschieben des Tabak-Sticks in seine E-Zigarette gestört wird. Ein kurzer Blick auf den Melder am Gürtel verrät: Geburt.

Die beiden steigen zielstrebig ins Fahrzeug. Das Bordsystem verrät nur, dass es sich um die im Nachbarort liegende Asylbewerberunterkunft handelt. Weitere Angaben zur Schwangerschaftswoche, Wehentätigkeit oder einem Fruchtwasserabgang sind nicht angegeben. Da werden die beiden auch schon angefunkt: „3/83-3 hört?“
Leitstelle: „3/83-3 die Umstände sind etwas unklar. Eine Schwangere hat wohl Bauchschmerzen. Ob es wirklich eine Geburt ist, ließ sich nicht sagen. Sie melden sich, wenn sie einen Arzt benötigen.“ 

Die Blicke der beiden Kinderlosen treffen sich ratlos – die Notfallsanitäterin funkt ein knappes „3/83-3 verstanden.“

Sie biegen auf den Hof der neuerbauten Asylbewerberunterkunft ein und werden schon empfangen. Ein Security-Angestellter führt sie zu einem ca. 50m entfernten EG-Zimmer, ohne auf dem Weg eine genauere Auskunft geben zu können. Sie gehen an zwei, auf dem Gang stehenden Männern vorbei, in ein helles, großzügiges, ordentliches Zimmer mit einem Doppelstockbett, zwei an die Wände gelehnten Matratzen und einem Tisch. Auf dem Sofa liegt eine ca. 20-25-jährige, blonde Frau mit schmerzverzerrtem, rosigem Gesicht. Um sie herum 3-4 z.T. kopftuchtragende Frauen; eine kniet bei ihr und hält ihre Hand. Ebenfalls 3-4 Männer verschiedener Nationalitäten stehen im Eingangsbereich des Zimmers. Die Patientin ist offensichtlich schwanger, aber der Bauchumfang macht auf das Team noch keinen hochschwangeren Eindruck. Während sich die NFS der Patientin nähert, nimmt sich der RS den Mutterpass vom Tisch. Er studiert kurz die Seiten und gibt „27+3, wenn ich mich nicht verrechnet habe. Sehe hier sonst keine Auffälligkeiten. Untersuchungen scheinen alle unauffällig gewesen zu sein.“, durch.
Die Kommunikation mit der Patientin gestaltet sich schwierig. Sie kommt aus der Ukraine und spricht nur sehr gebrochen Deutsch. Niemand kann wirklich übersetzen. Der beiläufig am Handgelenk getastete Puls ist rhythmisch, kräftig und bei einer Frequenz von ca. 110/min. Wenn die NFS es richtig verstanden hat, hatte die Patientin in der letzten Stunde ca. viermal zunehmend-heftige, krampfartige Bauchschmerzen im Abstand von ca. 15 min. Für die beiden wirkt es wie Wehen – aber in der 27. SSW?! Die beiden haben ein ungutes Bauchgefühl und kommunizieren dieses auch gegenseitig. Der Monitor zeigt einen Blutdruck von 138/84mmHg bei SpO2 von 99% an. Der Rettungssanitäter strebt den Transport ins Fahrzeug an und beide sind sich einig, noch ein NEF nachfordern zu wollen. Während der RS den Tragestuhl aus dem RTW holt, fordert die NFS telefonisch nach und versucht anamnestisch weiter zu kommen: Sonst bestünden keine Vorerkrankungen oder Allergien. Gestern sei noch alles normal gewesen. Die Mutterpass-Angaben des RS bestätigen sich, wobei es sich wohl um die 2. Schwangerschaft handle. Die Patientin habe bereits ein 2-jähriges, gesundes Mädchen, was aktuell vom Vater nebenan betreut werde. 

Zusatzinfo 1 – 28.04.23, ca. 18.30h:
Nachdem die Patientin eine erneute Schmerzspitze zeigt (letzte vor ca. 5min) und vehement den Tragestuhl ablehnt, wird sie mit der Hilfe der Umstehenden im Tragetuch zum RTW gebracht. Die Trage wird wie gewohnt eingeschoben und das Kopfteil etwas erhöht. Die Patientin wird zur Fritschen-Lagerung instruiert. Die Besatzung atmet kurz durch und setzt zu einem 10-for-10 an. Da beginnt die Patientin plötzlich wild zu gestikulieren, begleitet von einem „Kind kommt! Kind kommt!“. Schmerzen oder Wehen scheint sie aktuell jedoch keine zu haben. Die Hose wird nun heruntergezogen: die Fruchtblase ist tatsächlich sichtbar und ca. 3cm ausgetreten. Hektik macht sich breit. Die NFS fordert per Funk den Baby-RTW aus der nächsten Großstadt an. Da dieser ca. 45min brauchen wird, wird gleich ein 2. RTW zur Initialversorgung hinzubestellt. Draußen beginnt es zu regnen. Der RS bekommt hilflos das Besteck für die Notgeburt in die Hände gedrückt. Was er damit machen soll, kann die NFS ihm auch nicht so richtig beantworten. Die Bordheizung wird hochgedreht. Beide haben noch nie eine Geburt begleitet. Die Stimmung ist angespannt.

Zusatzinfo 2 – 29.04.23, ca. 19h:
Die Patientin presst unerwartet und die Fruchtblase platzt. Kleine Füßchen sind sichtbar. Der Körper rutscht direkt nach, doch am Hals bleibt das Kind stecken – gerade in Geburtsachse, Gesicht bzw. Bauch zur Decke gerichtet. Auf eine angespannt-panische Lagemeldung der NFS über Funk, meldet sich das anfahrende NEF zurück: “Der Regenschauer bremst uns aktuell ganz schön aus, 7min werden wir vermutlich noch brauchen!” – “Tipps habe ich ehrlich gesagt gerade auch keine.” Fügt der Notarzt aus dem Hintergrund hinzu. “Wir beeilen uns.”

Zusatzinfo 3 – 30.04.23, ca. 16:30h:
Während der RS eigentlich ahnungslos, verbal beim Atmen und Pressen unterstützt, versucht die NFS mehrfach vorsichtig den Kindskopf zu greifen und behutsam aus dem Becken zu manövrieren. Doch es klappt nicht.  Die wenigen Minuten fühlen sich ewig an. Verzweiflung macht sich breit.
Da werden die Hecktüren des RTW aufgerissen und der Notarzt stürmt herein. Geradlinig und wortlos greift er zum Becken der Patientin. Er bekommt die Kiefer zu greifen, dreht das Kind und kann es lösen. So wie er es auf der Anfahrt auf seinem Handy recherchiert hatte. Er und das RTW Team entspannen sich schlagartig.
Doch das unterentwickelte Kind ist blau, schlaff, bradykard (ca. 60 bpm) und atmet nicht.


Welche Gedanken schießen dir in den Kopf? Wie würdest du weiter vorgehen?
Welche Infos würdest du dir gerne noch einholen? Und wie?
Äußert wie immer auch gerne alle anderen Überlegungen zum Fall!


Hier geht’s zum kollegialen Austausch in unserer Telegram-Gruppe:


Hier geht’s inzwischen zur Auflösung samt Begleitmaterial!

Kommentar verfassen